
Nicht jeder Idiot ist ein Narzisst
Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber mich nervt es, dass – egal, wo man hinhört – ob in privaten Gesprächen, auf Social Media oder bei der Arbeit – jedes Verhalten beurteilt, analysiert und etikettiert wird.
Jemand verhält sich egoistisch, unfair oder benimmt sich irgendwie daneben – zack: „toxisch“, „narzisstisch“, „manipulativ“. Als ob wir alle ständig unter Videoüberwachung von Experten stünden.
Das Problem: Wenn wir jedes egoistische, laute oder unsensible Verhalten sofort pathologisieren, verlieren wir die Fähigkeit, zwischen echter Störung und schlichter Unhöflichkeit zu unterscheiden.
Manchmal steckt eben keine dunkle Kindheitserfahrung dahinter. Manchmal ist es einfach nur ein stinknormaler Arschlochmoment.
Komm schon. Du kennst das doch auch, oder?
Also ich schon. Um ehrlich zu sein hatte ich gerade heute Morgen so einen…kein Drama, aber völlig bescheuert. Klassisch beim Autofahren…nur so viel: ich hab‘s zumindest selbst gemerkt, leider ein bisschen spät. Kein Schaden entstanden, aber…ich hatte schon bessere Perfomances.
Möglicherweise bin ich jetzt von meinem Gegenüber in eine dieser pathologischen Schubladen gerutscht…und hey, komm da mal wieder raus…Spoiler: not so easy.
Für mich ist das heute jedenfalls ein passender Anlass da etwas genauer hinzuschauen…also, wenn Du mitkommen willst…:
Volkssport Ferndiagnose
Ich habe das Gefühl, wir haben einen neuen Volkssport: Ferndiagnosen.
Wo man früher, also zu meiner Zeit, in meiner Welt, locker aus der Hüfte schoss: „Vergiss es, der Typ hat einen an der Waffel“, heißt es heute: „Was? Das hat er gesagt? Oh je, das ist klar narzisstisch-toxisch mit Gaslighting-Tendenzen – da musst du dich gut schützen.“
Das Skurrile: Diese Analysen kommen oft von Menschen, die weder eine psychologische Ausbildung haben, noch wirklich viel Lebenserfahrung mitbringen, die sie mit in die Waagschale werfen könnten.
Es fällt schon auf: Viele aus der Insta- und TikTok-Generation, die in sehr behüteten Umfeldern groß geworden sind, jede Widrigkeit weich abgefedert bekamen, sehen heute in jedem kleinen Fehltritt sofort eine „toxische Persönlichkeit“.
Vielleicht passt das auch besser ins eigene Weltbild, als anzuerkennen, dass die Welt da draußen nicht annähernd so weichgespült, wohlmeinend oder kantenfrei ist, wie man es bisher gewohnt war.
Und ja – das kann Angst machen. Oder eben die rosarote Brille ziemlich brutal vom Kopf reißen.
Nicht jedes Arschloch ist toxisch. Nicht jeder Idiot ein Narzisst.
Zwischen echtem Narzissmus und schlichtem Fehlverhalten gibt es verdammt viele Zwischentöne.
Menschen benehmen sich daneben – aus Gründen: Streit mit der Freundin, zu wenig Schlaf, Sorgen, Frust, Dummheit … oder schlicht, weil sie eben Menschen sind. Nicht schön, klar. Aber leider völlig normal. Das kann man schon mal wegstecken.
Problematisch wird’s erst, wenn man nie gelernt hat, dass die Welt auch mal rau, unbequem und verdammt unperfekt sein kann. Dann ist es verlockend, alles, was ungewohnt oder subjektiv bedrohlich wirkt, sofort als „krankhaft“ zu labeln.
Und genau deshalb ist es so wichtig, eigene Erfahrungen zu machen – viele – auch wenn die manchmal wehtun wie eine Wurzelbehandlung ohne Betäubung.
Kleiner Appell an alle gutmeinenden Eltern: Eure Kinder vor allem zu bewahren ist nett gemeint, aber null hilfreich.
Doch bevor wir hier völlig abschweifen … zurück zum Thema.
Auch so mancher sehr einflussreiche Influencer mit Zigtausend Followern, der „Werde-zu-deiner-besten-Version“-Coach oder die ein oder anderen Podcaster – alle mit einem Auge auf Selbstdarstellung und dem anderen auf die Fehltritte anderer – verteilen Diagnosen wie Konfetti.
Die eigenen Arschlochmomente? Sanft retuschiert.
Natürlich leben wir in einer Zeit, in der es echten Narzissmus, Manipulation und toxische Beziehungsstrukturen zur Genüge gibt. Aber das zu diagnostizieren ist ein Fall für Experten – und damit meine ich nicht die selbsternannten. Ich möchte mir das auch nicht anmaßen. Auch wenn es bei dem ein oder anderen wirklich schwer zu übersehen ist…
Dennoch: Narzissmus ist eine klar definierte Persönlichkeitsstörung: tief verwurzelte Grandiosität gepaart mit chronischem Bewunderungsbedarf und Empathiemangel und das echt über Jahre hinweg.
Wer gerne im Gespräch das letzte Wort hat, hin und wieder den Ego-Boost braucht, sich nicht mehr meldet oder den letzten Parkplatz vor deiner Nase wegschnappt, fällt nicht unbedingt darunter.
Wenn wir alles, was uns nervt oder inadäquat erscheint, als „toxisch“ abstempeln, verschwimmen die echten Grenzen.
Nicht jede laute Stimme gehört einem Machtmenschen.
Nicht jeder, der sich abgrenzt, ist automatisch toxisch.
Und nicht jede geplatzte Verabredung ist gleich „emotionaler Missbrauch“.
Oft steckt dahinter kein böser Plan – sondern ein Missverständnis. Oder schlicht menschliche Unvollkommenheit.
Das Lustige daran: Bei uns selbst laufen Arschlochmomente unter „schlechter Tag“, „Stress“ oder „zu wenig Schlaf“. Kein soziopathisches Problem, keine Diagnose – einfach Menschsein.
Andere sehen wir hingegen gern mal durch die Lupe eines forensischen Psychologen.
Etiketten geben Sicherheit.
Ein Begriff wie „toxisch“ oder „narzisstisch“ lässt uns glauben, wir hätten die Situation durchschaut. Es vereinfacht die Welt, wenn wir Menschen in klare Schubladen stecken – und uns selbst natürlich in die gute, reflektierte Schublade.
Das kann erleichternd sein – und schützt uns emotional. Aber es kann auch dazu führen, dass wir komplexe Persönlichkeiten auf ein Schlagwort reduzieren.
Sobald wir aber anfangen, schwierige Menschen als „toxisch“, egoistisches, selbstherrliches oder rücksichtloses Verhalten als „narzisstisch“ zu bezeichnen, verlieren diese Begriffe ihre Bedeutung. Das heißt nicht, dass wir all diese Charakterzüge kleinreden sollen. Auf keinen Fall. Aber wenn wir jede unangenehme Begegnung als Persönlichkeitsstörung klassifizieren, verlieren wir den Blick für Nuancen. Wir hören auf, das „Warum“ hinter dem Verhalten zu hinterfragen – das tut uns selbst, unseren Beziehungen und Gesprächen nicht gut, verhindert Tiefe und Weiterentwicklung.
Wir alle kennen Alltags-Arschlochmomente, die weniger pathologisch als einfach nur menschlich sind, oder?
- Der ältere Herr im Supermarkt, der die Kasse blockiert, weil er „nur schnell“ alle Gutscheine einlösen will.
- Die Kollegin, die mitten im Meeting demonstrativ ihr Handy checkt.
- Der Nachbar, der nachts um eins die Musik voll aufdreht.
- Der Freund beim Spieleabend, der ständig die Regeln verbiegt, um zu gewinnen.
- Der Drängler mit Münchner Kennzeichen (sorry, das konnte ich mir echt gerad nicht klemmen .-)), der Dich auf der Autobahn mit Lichthupe von der Überholspur holt.
- Der Typ, der sich nach dem zweiten Date plötzlich nicht mehr meldet.
Das sind wahrscheinlich keine Narzissten. Keine toxischen Menschen. Einfach Menschen, die gerade einen Arschlochmoment ausleben.
Und ja, wir tun es selbst auch manchmal, ich jedenfalls, und ohne dich zu kennen, würde ich wetten, du auch.
Fazit
Vielleicht ist es an der Zeit, eine vergessene Kategorie wieder einzuführen. Früher gab es einfach die „ganz normalen Arschlöcher“ – Menschen, die sich in bestimmten Momenten danebenbenehmen, ohne dass eine tiefgreifende Persönlichkeitsstörung dahintersteckt.
Wo sind die eigentlich hin? Haben sie sich alle heimlich weitergebildet zur toxischen Persönlichkeit? Oder sind wir nur so eifrig im Diagnosen verteilen, dass wir das einfache, schlichte Arschloch als Spezies fast ausgerottet haben?
Und wenn wir auf eins treffen, könnten wir es ja einfach so lassen, wie es ist. Kein Drama, keine Diagnose. Einfach Augen rollen, Kopfschütteln, schmunzeln und denken: „Ah, da ist es ja – das klassische Arschloch in freier Wildbahn. Nervig, aber irgendwie unterhaltsam.“

Denk, was Du willst?

Der Fluss des Lebens...
Das könnte dich auch interessieren

Grüß Gott, Tschüss und Shiboka
11. Mai 2021
Gute Fragen – Ein Interview
15. Juli 2024